Zukunft braucht Erinnerung – Zweitzeugin aus Australien zu Besuch am Theodorianum

Am 05.06.24 eröffnete sich für unsere Schule die einmalige Gelegenheit, in einem Zweitzeugengespräch lebendige Erinnerungskultur zu erleben. Krysia Tincello, deren Mutter von den Nazis verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen wurde, berichtete mit eindrucksvollen Worten aus dem Leben ihrer Mutter. Begrüßt wurden Frau Tincello und ihr Ehemann Kevin Patterson von Schulleiterin Nicole Michaelis sowie dem stellvertretenden Bürgermeister Dieter Honervogt, der sich mit herzlichen Worten bei Frau Tincello für ihr großartiges Engagement bedankte.

Ein Bericht von Emma Jakobs aus unserer Q1.

Als wir uns in der dritten Stunde in der Aula einfanden, wusste niemand so genau was uns eigentlich erwarten würde. Kurz darauf betrat eine kleine, ältere Dame – Krysia Tincello – gemeinsam mit ihrem Mann, Kevin Patterson, den Raum, im Gepäck eine Tasche voller Geschichten - die ihrer Mutter Helena Korneluk.

Sie begann damit, uns zu erzählen, dass sie vor einigen Jahren die Tagebücher ihrer Mutter fand, welche diese in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst hatte. Dies weckte in ihr das Verlangen genauer herauszufinden, was ihre Mutter in diesen Zeiten erlebt hatte. Ohne wirklichen Anhaltspunkt außer den Orten, an denen ihre Mutter lebte und arbeitete, kam die gebürtige Australierin 2017 gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Bad Lippspringe, um auf die Spurensuche nach ihrer Mutter zu gehen.

Diese war 1941 im Alter von 15 Jahren aus ihrer Heimat Polen in den Westen deportiert worden, um in Sollstedt Zwangsarbeit zu verrichten. Diese oft stumpfsinnige Arbeit im Bergbau, auf Bauernhöfen oder in Munitionsfabriken war hart und gefährlich, oft lebten die Arbeiter unter lebensbedrohlichen Bedingungen. Gemeinsam mit vielen anderen verschleppten Kindern zwischen 12 und 16 musste Helena auf einem Bauernhof unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten, sechs bis sieben Tage die Woche von fünf am Morgen bis sieben am Abend. Die sehr knappen Nahrungsrationen führten zu vielen (ver-)hungernden Arbeitern, ein (Über-)Leben war kaum möglich. Helena hatte Glück, denn eine ältere Dame auf dem Bauernhof hasste Hitler und verabscheute das NS-Regime. Sie half den polnischen Kindern so gut, wie sie es konnte. Als sie kurz nach ihrem 18. Geburtstag von den Amerikanern befreit wurde, wog Helena nur noch 40 Kilo, ihre Kindheit und Jugend war dahin.

Ihr Leben in diesen zerrüttelten Zeiten überliefert Helena in ihren Tagebüchern, oft verfasste sie Gedichte, fand in der Poesie ihren Weg das Erlebte zu verarbeiten. Nach ihrer Befreiung begann sie im Kinderheim Haus Ottilie, einem Waisenhaus in Bad Lippspringe, zu arbeiten, kümmerte sich dort aufopferungsvoll um all die Kinder, die entweder keine Eltern mehr hatten oder deren Eltern sie nicht mehr wollten. Helena war bemerkenswert, sie fand die Stärke anderen zu helfen, obwohl sie selbst kaum Kraft für sich hatte. Sie fühlte tiefes Mitleid für die Kinder, rettete einige vor dem Hungertod, ganz ähnlich wie es die alte Dame auf dem Bauernhof für sie getan hatte. Nachdem sie 1950 mit Hilfe einer Frau aus Krefeld nach Australien emigrierte, würde sie bis 1971 Europa nicht wieder betreten, ihre Familie in Polen erst 31 Jahre nachdem sie deportiert wurde wiedersehen.

Nach dieser Erzählung war es still im Saal, alle fühlten wie tief emotional diese Geschichte ihrer starken, mutigen, klugen, aufopferungsvollen Mutter für Krysia Tincello ist, wie wichtig ihre Botschaft ist. Dass Krieg kein Weg ist, Probleme zu lösen, dass es im Krieg immer um Macht und das Ermorden und Auslöschen von ganzen Völkern geht. Dass Kriege ganze Generationen zerstören, Kindheit und Freude wegwischen und dass diese Erlebnisse Narben hinterlassen. Narben, die ein jeder sein Leben lang mit sich herumträgt. Dass man Friede braucht, Gnade, dass man miteinander reden muss. Zum Schluss sagte sie: „Every individual has the potential to be that kind of person.“ - Jeder hat das Potential so jemand (wie meine Mutter) zu sein. Getragen von lautstarkem Applaus wird uns diese Botschaft hoffentlich prägen.